Zukunftsforscher
Demografie: Ist die Demokratie in ländlichen Regionen in Gefahr?
Zahlen zur Demografie gibt es viele, Antworten zu den Auswirkungen auf die Demokratie bisher wenige. Antworten zur Demografie finden sich im neuen Gleichwertigkeitsbericht der Bundesregierung „Für starke und lebenswerte Regionen in Deutschland“. Auf gut 200 Seiten unternimmt der Bund erstmals eine Bestands- und Gefühlslage in den 400 Kreisen und kreisfreien Städten. Basis des Berichts sind 42 Indikatoren zu Wirtschaft, Gesellschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge sowie Klima und Umwelt.
Standortfaktor ländlicher Raum
Die 11 Regionencluster des Berichts zeigen die enorme Dynamik der Städte, Kreise und Gemeinden auf. Während im Osten ländliche Regionen mit strukturellen Herausforderungen und wirtschaftlicher Dynamik sowie mit demografischen Herausforderungen und positiver wirtschaftlicher Entwicklung dominieren, sind es im Süden und mittleren Westen Regionen mit guter wirtschaftlicher und sozialer Lage im Ballungsraum großer Städte. Die deutsche Wirtschaft ist geprägt von „hidden champions“, die überwiegend in ländlichen Regionen fernab der urbanen Zentren angesiedelt sind. Der deutsche Föderalismus mit seiner ausgeprägten regionalen Vielfalt wird zum Standortfaktor: Deutschland gehört im Vergleich zu allen anderen westlichen Industrieländern zu der kleinen Gruppe von Ländern mit vergleichsweise starker Wirtschaftskraft, bei denen regionale Ungleichheiten relativ niedrig sind und in den letzten zehn Jahren kleiner geworden sind.
Die gute Nachricht: Ländliche, dünn besiedelte Regionen haben in den letzten 10 Jahren vor allem beim Einkommen aufgeholt. Das Bruttoinlandsprodukt pro Beschäftigten ist hier im Schnitt um 28 Prozent im Vergleich zu anderen Kreistypen gestiegen, auch dank einer Zunahme an Beschäftigung. Die Arbeitslosenquote hat sich in dünn besiedelten Regionen besser entwickelt. Das gilt besonders für die ländlichen Regionen in Ostdeutschland. Dort ist das Wachstum stärker als in Deutschland insgesamt. Das Wachstum in Städten wie Schwein, Magdeburg, Leipzig, Erfurt, Potsdam und Dresden liegt höher als in vielen westdeutschen Städten wie Flensburg, Bremerhaven, Duisburg, Dortmund und Pforzheim.
Deutschland wird weiter wachsen - aber nicht überall
Für die Zukunft geht der Bericht von einer Bevölkerungszunahme auf 85,5 Millionen Menschen bis zum Jahr 2045 durch Zuwanderung aus. Von diesem Trend profitieren nicht alle Städte und Gemeinden. 150 von 400 Kreisen müssen mit sinkenden Bevölkerungszahlen rechnen. Die medizinische und pflegerische Versorgung wird vor allem in diesen Kreisen zur zentralen Herausforderung. Kreise ohne städtische Umgebung haben im Schnitt die weitesten Wege zur nächsten Gesundheits- oder Pflegeeinrichtung. Fast die Hälfte der Befragten sieht eine Verschlechterung der Versorgung, nur fünf Prozent eine Verbesserung. Noch schlechter schneidet der Faktor Mobilität und der öffentliche Nahverkehr ab.
Größere regionale Unterschiede ergeben sich wenig überraschend bei der Lebenszufriedenheit. Während zwei Drittel der Bürger eher oder ganz und gar zufrieden sind, fällt die Lebenszufriedenheit in Ostdeutschland und in strukturschwachen Regionen geringer aus. Gefragt nach der Entwicklung ihrer Region in Zukunft, fällt das Bild insgesamt eindeutig aus: Nur jeder Dritte sieht der Zukunft eher mit Zuversicht entgegen, 60 Prozent betrachten sie eher mit Sorge. Vor allem in demografisch schrumpfenden, ländlichen Regionen blicken die Menschen pessimistisch in die Zukunft. Die Menschen dort halten ihr Zuhause für weniger lebenswert. Acht der 10 schwächsten Regionen liegen in Ostdeutschland.
Die besondere demografische und demokratische Situation in Ostdeutschland
Demografie schlägt Lebensqualität und Wohlstand und gefährdet die Demokratie. Männerüberschuss und Frauenmangel sind in Ostdeutschland mit bis zu 25 Prozent europaweit am höchsten. Eine Kultur der Abwanderung und des Unmuts gehen Hand in Hand. Politische Profiteure sind die konkurrierenden Parteien des Untergangs AfD und BSW. Die AfD mit weniger als 20 Prozent weiblichen Mitgliedern ist zur Partei der verunsicherten und reaktionären Männlichkeit geworden. In Bundesländern mit einer geringen parteipolitischen Bindung haben es Anti- und Nichtregierungsparteien leichter und aggregieren den wachsenden Unmut und Zukunftspessimismus.
Neues Denken ist gefragt. Steffen Mau, Soziologe aus Rostock, sieht den Osten nicht als Nachzügler, sondern als Vorreiter einer Entwicklung und plädiert in seinem neuen Essay „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“ für ein radikales Neudenken in Richtung „Modelle der politischen Erneuerung“. Als Ergänzung zur real existierenden parlamentarischen Demokratie schlägt er Bürgerräte und eine „dritte Kammer“ aus Bundestag, Bundesrat und zufällig ausgelosten Bürgern vor, die Entscheidungen zu grundsätzlichen und über eine Legislaturperiode reichende Fragen erarbeiten (wie Energieversorgung, soziales Pflichtjahr und Klimatransformation). Sie werden nicht reichen. Der Düsseldorfer Ökonom Jens Südekum fordert eine „proaktiven Regionalpolitik“ für ganz Deutschland.
Wie eine kluge Regionalpolitik aussehen kann...
Es geht um einen neuen Aufbauplan, wenn Wohlstand und Demokratie nicht unter Dauerdruck geraten sollen. Beides verteidigen und sichern können Bund, Länder und Kommunen nur gemeinsam. Die Instrumente gibt es. Statt um Deindustrialisierung geht es um Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demokratie. Eine kluge und kreative Regionalpolitik, angefangen von guten Kitas und Schulen über Straßen und (digitaler) Infrastruktur bis hin zu Klima und Kultur, liegt im Interesse aller Akteure. Die Botschaft muss lauten: „Wir kümmern uns und lassen keine noch so kleine Region und Kommune im Stich.“ Deutschland muss wieder mehr Phantasie und Experimente wagen! Whatever it takes.