Digitalisierung
Digitaler Zwilling der Stadt wird erwachsen
In die Wiege gelegt wurde er der bayerischen Landeshauptstadt Anfang 2019 als Förderprojekt des Bundesverkehrsministeriums. Nach zwei Jahren war dem Stadtrat dann klar: Der Digitale Zwilling ist nach München gekommen, um zu bleiben.
Digitaler Zwilling als Leuchtturmprojekt
Der Rat fasste schon ein Jahr vor Ende der Projektlaufzeit den Beschluss, dass die Stadt dauerhaft ein digitales Abbild von sich erzeugen und weiterentwickeln wird. Der Digitale Twin ist ein Leuchtturmprojekt und soll der Bayernmetropole nach Willen des Rates dabei helfen, das Ziel der Klimaneutralität plangemäß 2035 zu erreichen.
Die Idee des Digitalen Zwillings stammt aus der Industrie 4.0 und dem Konzept des Internets der Dinge. Nur, dass hier eben kein Produkt, sondern gleich eine ganze Stadt ein digitales Ebenbild bekommt. „Für uns ist es ein sehr gutes Abbild der realen Welt“, beschreibt es Projektleiter Markus Mohl. „Aber nicht nur in Form eines sehr guten 3-D-Stadtmodells, sondern auch angereichert mit zahlreichen Informationen, die man draußen vor Ort nicht sehen kann.“ Diese Informationen werden im Digitalen Zwilling hinterlegt, um Modelle und Simulationen rechnen zu können – sie bilden die Basis für so genannte „Was-wäre-wenn“-Szenarien, die zur Entscheidungsgrundlage für Veränderungen in der realen Welt werden.
Mehr Bürgerpartizipation beim Radwegekonzept
Ein mit aktuellen Daten aus unterschiedlichen Quellen der Stadtverwaltung gefütterter Zwilling ist nicht nur ein Pfund für die städtische Bauplanung - es trägt dazu bei, dass die Bürger in Entscheidungsprozesse besser einbezogen werden können. So ließ sich über den Twin realitätsnah darstellen, wie sich das Mobiliätsreferat ein neues Radwegekonzept an der Boschetsrieder Straße vorstellte. Für dieses Projekt der Bürgerpartizipation gewann München den zweiten Platz in der Kategorie Service und Kommunikation des Deutschen Fahrradpreises 2022.
Daten aus Luftbildern und Drohnenflügen
Doch woher stammen die Daten, aus denen Münchens digitales Abbild entsteht? Im Wesentlichen aus einem semantischen 3-D-Modell, basierend auf Gebäudegrundrissen im Liegenschaftskataster, das um Gebäudedetails und reale Dachformen ergänzt wird. Am Bildschirm lassen sich so selbst einzelne Elemente und Mauerteile von einer Mindestgröße von 10 Zentimetern sichtbar machen und in den Originalfarben darstellen. Auch die Daten von Luftbildern und Drohnenflügen werden eingespeist. Dabei bleibe alles datenschutzkonform, sagen die Verantwortlichen: Individuelle Elemente an den Häusern – wie Gardinen oder Blumenkästen – sind nicht zu sehen.
Virtueller Stadtrundgang
Zwischen August 2019 und Mai 2020 befuhren Mitarbeiter im Rahmen einer „Mobile Mapping Kampagne“ außerdem alle Straßen der Stadt und sogar 700 Kilometer Grünfläche, inklusive des kompletten englischen Gartens. Sie legten eine Strecke von insgesamt 3.500 Kilometern zurück, um 360-Grad-Panoramabilder in HD und Aufnahmen vom gesamten Straßenraum zu erstellen. So bietet sich jetzt eine (nichtöffentliche) Anwendung, die einen virtuellen Stadtrundgang erlaubt, der Googles „Streetview“ ähnelt. Sie macht es auch möglich, digital Abstände und Höhen zu messen.
Die Daten dieser Straßenbefahrung haben die Wissenschaftler dann semantisch ausgewertet. So entstand ein digitales Abbild des Verkehrsraumes inklusive der dort geltenden Verkehrsregeln. Es bildet die Grundlage für Simulationen im Straßenraum.
Mit Augmented Reality in die Zukunft schauen
Auch die gesammelten Fachdaten aus den unterschiedlichen Referaten, Fachabteilungen und Stadtwerken fließen in den Digitalen Zwilling ein. Sensordaten und Echtzeitdaten werden integriert – zum Beispiel von den Wetterstationen oder den Elektroladesäulen im Stadtgebiet. Wer wissen will, wie sich die Verkehrsmenge über den Tag oder die Woche entwickelt hat – und welchen Einfluss das Wetter darauf hatte, kann den Zwilling fragen. Auch ein Blick in die Zukunft ist möglich: In Besprechungen oder auf Baustellen lassen sich mittels Augmented Reality interaktive 3-D-Modelle einer zukünftigen Bebauung visualisieren.
Die Landeshauptstadt kann die Daten ihres smarten Zwillings aktuell auch gut für ihr Projekt „Tempus“, die Erprobung von automatisiertem Straßenverkehr nutzen. Der Twin liefert eine hochaufgelöste Datengrundlage sowie eine Vernetzung mit Echtzeitdaten der Fahrzeuge und der Infrastruktur.
Connected Urban Twins
Während der Zwilling noch weiter wächst und gedeiht, tut man in München schon den nächsten Schritt in Sachen Digitalisierung. Im Projekt „Connected Urban Twins – Urbane Datenplattformen und Digitale Zwillinge für Integrierte Stadtentwicklung“ (CUT) entwickelt München gemeinsam mit Hamburg und Leipzig bis 2025 gemeinsame Standards für die Entwicklung Digitaler Zwillinge für alle Kommunen und Städte. Ende März trafen sich auf ihre Initiative hin mehr als 30 Organisationen, um gemeinsam einen nationalen DIN-Standard für Digitale Zwillinge zu erarbeiten.
Das Referat für Stadtplanung und Bauordnung in München ist im CUT-Trio zuständig für das Themengebiet „Innovative Anwendungsfälle der Stadtentwicklung“. Es geht dabei um die datengetriebene Anwendungen in den Bereichen Energie, Klima, die eine zukunftsfähige Infrastruktur- und Flächenplanung möglich machen. Der Digitale Zwilling trägt dazu bei, dass Daten jetzt in erheblich größerem Umfang berücksichtigt und analysiert werden können. So steigt die Qualität und Schnelligkeit der Planung und die Effizienz der Integrierten Stadtentwicklung, hoffen die Projektplaner.
Baukastensystem für andere Kommunen
Federführend für den Bereich Beteiligung der Stadtgesellschaft und den Wissenstransfer zeichnet die Stadt Leipzig, während die Freie und Hansestadt Hamburg Transformative experimentelle Stadtforschung und das Themenfeld "Urbane Datenplattformen und Digitale Zwillinge" bearbeitet.
Man wolle mit dem Projekt Standards für ganz Deutschland setzen, heißt es von den CUT-Verantwortlichen: „Neben den Digitalen Zwillingen in den Partnerstädten soll ein Baukastensystem für den Einsatz in anderen Städten und Kommunen entstehen. Die Elemente des entwickelten Systems werden als Open Source-Lösungen zur Verfügung gestellt.“ Sieht ganz so aus, als ob in naher Zukunft auch in anderen Städten smarte Zwillinge das Licht der Welt erblicken werden.