Gruppenbild vor digitaler Mitfahrbank
Letzter Test vor dem Start der digitalen Mitfahrbank in Etteln durch die Verantwortlichen.
© privat

Ländlicher Raum

Dörfer im Aufbruch: Drei Zukunftskonzepte

Etteln ist eines der führenden digitalen Dörfer und hat die erste digitale Mitfahrbank Deutschlands. Schwieberdingen glänzt mit vielen Ladestellen für E-Autos und einem Mobilitätskonzept. Ein Sozial-und Kunstprojekt hat aus einem knapp 2200-Einwohner-Ort abseits der großen Städte die Künstlerstadt Kalbe gemacht.

Nix los auf dem Land?  Im Gegenteil: Die Dörfer von heute sind nicht von gestern. Auch kleine Orte können Innovation. Was es dazu vor allem braucht? Mutige Ideen, die gemeinsam angepackt werden – und die passende finanzielle Förderung. KOMMUNAL hat sich nicht schwer damit getan, Beispiele dafür zu finden. Nehmen Sie erst einmal Platz auf Deutschlands erster digitalen Mitfahrbank. Sie steht in Etteln im Kreis Paderborn.

Erste digitale Mitfahrbank

Knapp 1.900 Einwohner leben in dem idyllisch gelegenen Ort, es geht beschaulich zu. Und doch fühlen sich die Dorfbewohner keineswegs abgehängt. Dafür haben sie selbst mit viel Engagement gesorgt.  

Was unterscheidet die Ettelner Mitfahrbank von anderen Mitfahrbänken? „Die Fahrtziele werden nicht wie sonst häufig üblich, über Schilder zum Umklappen oder Ausziehen angezeigt“, erläutert Ortsvorsteher Ulrich Ahle. „Stattdessen kann das Fahrziel über eine Tastatur an der Bruchsteinwand hinter der Bank ausgewählt werden. Der Ort erscheint dann auf der digitalen Anzeige.“ Und nun der Clou: In diesem Moment erfahren auch alle über 700 Bürger, die in der Dorf-App registriert sind, dass jemand auf der Bank sitzt. „Nach 15 Minuten wird die Digitalanzeige und auch die Mitteilung in der Dorf-App automatisch gelöscht.“ 

Schneller in die Nachbarorte

Die digitale Mitfahrbank soll eine Mobilitätslücke füllen. „Wir sind ausgezeichnet angebunden“, sagt der Ortsvorsteher, „alle halbe Stunde ist man mit dem Bus nach 22 Minuten im Stadtzentrum von Paderborn.“  Schwieriger ist es aber, die Nachbarorte zu erreichen. „Und diesen Service wollen wir über die digitale Mitfahrbank bieten.“ Elmar Schäfer, der Vorsitzende des Vereins „Etteln aktiv“, schildert die Situation so: „Mit dem Auto benötige ich zehn Minuten für die Strecke von hier nach Dörenhagen. Mit dem Bus muss man über Paderborn fahren – und das dauert über eine Stunde. Deshalb haben wir uns Gedanken zu alternativen Mobilitätsformen gemacht.“

 

Mitfahrschild

Auch die globale Welt ist in Etteln ganz nah. Damit der Ort zukunftsfähig wird, hat die Dorfgemeinschaft vor rund zwei Jahren in Eigenregie mehr als 30 Kilometer Glasfaserkabel verlegt - „bis zur letzten Milchkanne“. Ein beeindruckendes Gemeinschaftswerk: Über 60 Helfer aus dem Ort leisteten dazu 3.400 Stunden ehrenamtliche Arbeit.  „Wir wollen die Zukunft unseres Dorfes selbst in die Hand nehmen. Warum auf die anderen warten: Politik, Zufälle, Gesetze?“, lautet das Credo des 2013 gegründeten Verein „Etteln aktiv“. Das Dorf soll wachsen, ohne seine Identität zu verlieren, Grundschule, Handwerksbetriebe, Geschäfte sollen erhalten bleiben.

Kernmarke des innovativen Dorfes ist die Digitalisierung. Wie es dazu kam? Den Anstoß gab Ortsvorsteher Ulrich Ahle. Er ist IT-Fachmann und bringt sein Know-How in sein Amt mit ein. Geschäftlich trenne er beide Bereiche streng, betont Ahle. Die Dorf-App, mit der auch die digitale Mitfahrbank verbunden ist, liefert nicht nur Informationen, über sie kann der Nutzer auch das e-Dorfauto reservieren. „In den ersten 20 Monaten wurde das Fahrzeug mehr als 700-mal genutzt und hat mehr als 38.000 Kilometer zurückgelegt“, berichtet der Ortsvorsteher. Geplant ist eine Mobilitätsstation, an der dann auch ein Elektro-Lastenrad stehen wird. Die Ettelner können es dann ebenso wie das Dorfauto kostenlos ausleihen. Für die 10.000 Euro-Anschaffung gibt es unter anderem Zuschüsse vom Land, das Lastenrad wird  auch über das Preisgeld aus dem Heimatpreis des Landkreises finanziert, das der Ort für seine Erfolge bei der Digitalisierung verliehen bekam.

Kommune will Energieversorgung digital managen

Als nächsten Schritt will Etteln die Energieversorgung digital managen. Möglich machen soll das ein Forschungsprojekt: Die digitale Ortsnetzstation mit Multifunktionalem Energie – und Leistungsserver. „Unter realen Bedingungen soll ein intelligenter Netzregler getestet werden“, sagt Ortsvorsteher Ahle. Das Land Nordrhein-Westfalen unterstützt den Bau des Hauses. Batterien speichern dort künftig den überschüssigen Strom, der von Photovoltaikanlagen produziert wird und geben ihn bei Bedarf wieder ab. Etteln wurde für den Versuch ausgewählt, weil hier bereits auf 218 der etwa 600 Hausdächer Solarstrom produziert wird. Der Ort erzeugt rund 400 Prozent des benötigten Energiebedarfs aus Photovoltaik, Windkraft und Biomasse. Und noch ein innovatives Projekt: Smart Water. Mit Hilfe von Sensoren und Radtechnik werden entlang der Altenau Niederschlagsmenge, Pegelstand und Grundwasserstand gemessen.

Finanzierung der Projekte

Wie das Elektro-Dorfauto und die digitale DorfApp wurde auch die digitale Mitfahrbank zu 65 Prozent über das LEADER-Programm Südliches Paderborner Land und zu 35 Prozent durch die Gemeinde Borchen finanziert.  Uwe Gockel, der Bürgermeister der Gemeinde, zu der Etteln gehört, beeindrucken nicht nur die Ideen. „Das ehrenamtliche Engagement ist vorbildlich“, schwärmt er.

Schwieberdingen mit E-Ladestellen vorne

Ein weiteres Beispiel dafür, was passiert, wenn Know How örtlicher Unternehmen, politische Visionen und dörfliche Tatkraft zusammenkommen, findet sich in Schwieberdingen. Die 11.500-Einwohner-Gemeinde im Kreis Ludwigsburg fällt mit rund 60 öffentlichen Ladepunkten für Elektroautos aus dem Rahmen. Schwieberdingen liegt beim Ausbau der Ladekapazitäten für Elektrofahrzeuge.an der Spitze der Kommunen unter 20.000 Einwohner. Nach Angaben der Bundesnetzagentur verfügt bislang nicht einmal die Hälfte der Kommunen in Deutschland über öffentlich zugängliche Ladestationen.

Allerdings zeigt eine Auswertung aus dem Ladesäulenregister des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW auch, dass das Ladesäulennetz auch in Mittelstädten und Kleinstädten sowie Landgemeinden dichter wird.

Schwieberdingen Ladesäule
60 öffentliche Ladepunke gibt es in Schwieberdingen

Wie kommt die Gemeinde zu so vielen E-Ladepunkten? Bürgermeister Nico Lauxmann sagt: „Wir sind in der glücklichen Lage, dass wir bei uns den Forschungsentwicklungsstandort von Bosch mit 7000 Mitarbeitern haben.“ Die Kommune hat mit dem Unternehmen ein Mobilitätskonzept aufgestellt. Dazu gehört, dass schon am Bahnhof E-Räder bereitstehen, mit denen Mitarbeiter den Weg zum Industriegebiet zurücklegen können. Damit wird der Ort vom Autoverkehr entlastet. Die meisten Ladestationen sind auf dem Bosch-Gelände, aber auch auf dem öffentlichen Parkplatz davor. Im Ort gibt es bislang sechs Ladestellen.

Einstieg in die Mobilitätswende

Vor vier Jahren hat Schwieberdingen damit begonnen, den Fuhrpark auf Elektroautos umzustellen. Ein E-Car steht für die Verwaltung, eines für den Gemeindevollzugsdienst bereit. Es gibt zwei Dienst-Pedilecs, die Verwaltung bekommt zwei E-Roller. „Wir prüfen bei jeder Neuanschaffung, ob wir das Fahrzeug durch ein elektrisch betriebenes Fahrzeug ersetzen können“, sagt der Bürgermeister. „Der Einstieg zur Mobilitätswende ist geschafft. Jetzt müssen wir dranbleiben.“  

Kalbes Weg zur Künstlerstadt

Ortswechsel nach Kalbe. 2217 Einwohner, die nächste große Stadt ist weit. Die Innovationskraft dieser kleinen Kommune in Sachsen-Anhalt liegt in einem großen Sozial- und Kunstprojekt, das Menschen selbst von ganz weither anzieht – und die Menschen in der Region halten soll.

Corinna Köbele Künsterstadt Kalbe

Als wir begonnen hatten, die Künstlerstadt Kalbe zu entwickeln, waren wir genervt vom wachsenden Leerstand, die wunderbaren Häuser verfielen immer mehr. Uns war klar: So konnte es nicht weitergehen, wir brauchen eine neue Idee."

Corinna Köbele, Initiatorin

Die 59-Jährige ist die Initiatorin und Vorsitzende des Vereins. Die Psychotherapeutin aus Hessen war 1995 in den Erholungsort gekommen, als hier die neue Reha-Klinik gebaut wurde. Nach mittlerweile fast neun Jahren Künstlerstadt Kalbe kann sie auf eine erfolgreiche Bilanz zurückschauen: Sie hat dafür gesorgt, dass die Gemeinde ihr kreatives Potenzial entdeckte. Das Motto: Wir bringen Fülle in die Hülle. Das Konzept:  In die leerstehenden Häuser soll wieder Leben einziehen.

Die von Corinna Köbele initiierte Kulturinitiative rief 2013 die Künstlerstadt Kalbe aus und  lud Kunstschaffende aus aller Welt ein.  „Mein verrücktes Ziel war es, 100 Künstler in die Leerstände zu bekommen“, sagt Köbele. Es war nicht einfach, die Besitzer der Häuser davon zu überzeugen. „Wir konnten damit aber verhindern, dass die Häuser immer mehr verkommen.“

Künstlerstadt
Mit viel Engagement dabei! Arbeiten im Kulturhof  – ein Vierseitenhof, den die Künstlerstadt Kalbe 2016 gekauft hat und saniert.  



In den leeren Hüllen entstanden Ateliers und Künstlerwohnungen. „Mittlerweile haben wir 15 Immobilien in unserer Hand“, sagt Corina Köbele.  Drei Häuser und vier Grundstücke gehören dem Verein. Im ehemaligen Kreisgericht soll nach der Sanierung ein kulturelles Zentrum entstehen. Geplant ist auch ein Gründerlabor. „Wir wollen, dass Menschen sich wirtschaftlich mit sozialen Innovationen niederlassen“, so Köbele.

Winter-und Sommercampus zieht Menschen an

Kalbe ist seit Jahren Schauplatz eines Wintercampus und eines 50-tägigen Sommercampus mit über 40 Veranstaltungen – von offener Bühne, Lesungen, Ideenwerkstätten bis hin zu Konzerten. Seit 2020 betreibt die Künstlerstadt die Galerie 8 für zeitgenössische junge Kunst. Über 450 Stipendien wurden an nationale und internationale Kunststudierende und Künstler vergeben. Vier Festivals jedes Jahr sorgen für kulturelle Vielfalt im ländlichen Raum.

Für Einheimische werden Workshops angeboten. Sie richten sich an Senioren, Kinder und Jugendliche und an Menschen mit Behinderungen. „Für unsere Sommer- und Wintercamps haben wir zahlreiche Bewerbungen, sogar aus Australien und Anfragen aus Südkorea“, erzählt Corina Köbele. Sie hat das Projekt mit Null Förderung begonnen, dann kamen finanziellen Hilfe von der Kulturstiftung des Bundes, einer Stiftung  und  vielen Projektförderungen unterschiedlicher Träger. Der Verein konnte seit 2020 fünf Stellen schaffen; sie werden über europäische Mittel gefördert.

In den sozialen Medien ist die Künstlerstadt stark präsent. Dort wirbt Kalbe auch um Zuzügler. Zum Beispiel mit einem Komplett-Paket. Das klingt dann so: „Wenn du hierherziehst, bekommst du eine Ausbildungsstelle, du kannst eine Wohnung für 150 Euro bekommen und kannst bei uns in der Künstlerstadt mitmachen.“  Drei Kommunen, drei Wege in die Zukunft

Fotocredits: Privat/Gemeinde Schwieberdingen/Künsterstadt Kalbe