Kirchanschöring bei Traunstein stellt seinen Haushalt auf Nachhaltigkeit um - dem Gemeinwohl verpflichtet
Kirchanschöring bei Traunstein stellt seinen Haushalt auf Nachhaltigkeit um - dem Gemeinwohl verpflichtet

Haushaltspolitik

Finanzen in der Kommune sind dem Gemeinwohl verpflichtet

Als erste Gemeinde in Deutschland hat sich der kleine Ort Kirchanschöring im Landkreis Traunstein aufgemacht, anhand einer Gemeinwohlmatrix die eigene Verwaltungsarbeit zu durchleuchten, Verbesserungsbedarfe zu formulieren und innovative Prozesse in Gang zu setzen. Die Gemeinde will nichts weniger als ein Motor der Gemeinwohlbewegung sein – auch über die Bilanzierungsphase hinaus.

Dem Gemeinwohl verpflichtet - so steht es schon in der Verfassung des Freistaates Bayern. Im Artikel 151 heißt es: „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten.“ In idyllisch gelegenen Städtchen Kirchanschöring im Landkreis Traunstein nimmt man diesen verfassungsrechtlichen Auftrag besonders ernst. Für den Prozesssteuer- und Regelungsingenieur Hans-Jörg Birner, seit 2008 Bürgermeister von Kirchanschöring, ist das Thema Gemeinwohl Chefsache.

Zunächst muss definiert werden, was eine Gemeinwohl-Bilanz eigentlich sein soll...

Unter seiner Regie hat Kirchanschöring als erste deutsche Gemeinde den gesamten Gemeinwohl-Bilanzierungsprozess durchlaufen. In der Gemeinwohlbilanz werden alle Bereiche untersucht und dargestellt, die in der Gemeindeverwaltung bearbeitet und in der finanziellen Bilanz Niederschlag finden. Soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung, Transparenz, ökologische Nachhaltigkeit, Menschenwürde und Solidarität sind die wesentlichen Werte, anhand derer die Beziehungen der Verwaltung – etwa zu Bürgern, Lieferanten sowie den eigenen Mitarbeitern – untersucht werden. Kein ganz einfaches Unterfangen für die im Dienst der Stadt stehenden Verwaltungsfachleute. Das wusste Hans-Jörg Birner vorher und trieb den Prozess dennoch voran: „Natürlich haben einige in der Gemeindeverwaltung geseufzt: Jetzt kommt schon wieder was Neues. Aber nachdem wir Aufgaben und Chancen in einem ersten Workshop detailliert dargestellt hatten, schlug die Stimmung schnell ins Positive um. Vieles von dem, was Verwaltungsangestellte täglich leisten, wird ja selten als etwas Besonderes betrachtet und in seinem tatsächlichen Wert erkannt. Die Gemeinwohlbilanzierung war nun eine Möglichkeit, dass eigene Handeln einmal ganz neu zu betrachten und einzuordnen“, erklärt der Bürgermeister.

Was eine Gemeinwohl-Bilanz realistisch leisten kann...

In mehr als einem Jahr sammelten die Mitarbeiter Informationen, ordneten diese in Kategorien und bewerteten Ihre Arbeit anhand der vorgegebenen Kriterien neu. Begleitet wurde dieser einjährige Prozess von den Beratern Kurt Egger und Isabella Klien. „Im Gegensatz zu Unternehmen unterliegen wir als Gemeinde ja gewissen Zwängen, die wir als einzelne Kommune nicht verändern können. Dazu gehört zum Beispiel der Tarifvertrag, nach dem unsere Angestellten bezahlt werden“, erläutert der Bürgermeister. „Aber auch die Verpflegung, die wir – da wir keine eigene Mensa haben – auch nicht wirklich beeinflussen konnten.“ Das intensive Studium der einzelnen Verwaltungsbereiche mündete in einige neue Ansatzpunkte für eine Verbesserung der „Gemeinwohltauglichkeit“. Gut aufgestellt ist die Gemeinde etwa bei der finanziellen Handlungsfreiheit und der Haushalts- und Sozialpolitik. Nachholbedarfe sieht die Gemeindeverwaltung zum Beispiel beim Management des Bürgerservices oder bei der Organisationskultur und den gemeindeinternen Prozessen. Letztendlich kam Kirchanschöring auf 588 von 1.000 möglichen Punkten und sieht es nun als langfristiges Ziel an, den Bericht kritisch durchzuarbeiten, vorhandene Defizite in den Blick zu nehmen und sich noch besser aufzustellen.   

Die Gemeinwohlberater Kurt Egger und Isabella Klien zeigten sich begeistert vom Engagement der Gemeinde: „Das Selbstverständnis der Gemeinde ist bereits sehr gemeinwohlorientiert – ausgehend vom Bürgermeister bis hin zu den Mitarbeitern in der Verwaltung. Dieser respektvolle, von Werten getragene Geist zeigte sich auch bei unserer bisherigen Zusammenarbeit“, bilanzieren die beiden.

Die Fremdwort-Monster im Haushaltsplan - eine Übersetzung musste her...

Pionierarbeit mussten die Beteiligten schon zu Beginn des Prozesses im Jahr 2017 leisten. Das schwartendicke, tabellenlastige Handbuch für die Bilanzierung erwies sich als Fremdwort-Monster und bedurfte fast schon einer Übersetzung. Hans-Jörg Birner lacht: „In einer Neuauflage des Handbuches 2.0 sind die strengen, formalistischen und streng wissenschaftlichen Vorgaben – und auch die Sprache – recht gut an die Praxis angepasst worden. Das wird die Arbeit von nach uns kommenden Kommunen deutlich vereinfachen. Die Richtung, in der die Initiatoren der Gemeinwohlökonomie wollen, stimmt auf jeden Fall – und wir in Kirchanschöring wollen ein Motor dieser Bewegung sein. Die ersten Unternehmen ziehen auch schon mit. So hat sich bei uns auch die Kreissparkasse im benachbarten Landkreis bilanzieren lassen.“