Zukunftsforscher
Der große KI-Irrtum
Dass Visionen heute von Dystopien dominiert werden und nicht mehr vom Glauben an eine bessere Welt, zeigt die Debatte um „Künstliche Intelligenz“. Wie bei jeder neuen Technologie wird auch hier vor massiven Nebenwirkungen gewarnt: mangelnde Transparenz und Nachvollziehbarkeit, Diskriminierung durch Verzerrungen, Datenschutz und Privatsphäre. Neu ist, dass diesmal die Kritik von Tech-Experten selbst kommt. In einem offenen Brief warnen Unternehmer wie Elon Musk, Apple-Mitgründer Steve Wozniak und Star-Historiker Yuval Harari vor einem „unkontrollierten Wettlauf“ der KI. Als erstes EU-Land hat Italien reagiert. Die italienische Datenschutzbehörde hat den Chatbot Ende März erst einmal sperren lassen.
KI - fast ausnahmslos Männer reden über die Schrecken
Die düstersten Schreckensszenarien werden an die Wand geworfen: Bald werden uns Maschinen ersetzen, der Verlust der Zivilisation drohe, die Menschheit werde die Intelligenz der Maschinen nicht mehr einholen können. Schon vor Jahren hielt Musk Künstliche Intelligenz für gefährlicher als Nuklearwaffen, Harari sah den Menschen zum Supercomputer und zum Homo Deus mutieren. Auffallend ist, dass unter den rund 1.000 Unterzeichnern des Briefes kaum Frauen sind. Fast ausnahmslos Männer reden über die Schrecken der kommenden Machtübernahme durch intelligente Computer und Maschinen. Die KI-Debatte wird angetrieben von der menschlichen Urangst, selbst überflüssig zu werden. Dabei kann KI dazu beitragen, die größten Herausforderungen der Menschheit zu lösen. Vorausgesetzt, wir räumen mit einem Mythos auf und stellen uns den Chancen der Künstlichen Intelligenz.
KI - ein Mythos und ein Meister
Die Risiken bei KI sind wie bei jeder technologischen Revolution bekannt: Millionen von Jobs können durch Automatisierung und Künstliche Intelligenz vernichtet werden. Betroffen sind wiederholende (repetitive) Tätigkeiten und Jobs. Schon bald, wird gewarnt, entscheiden Algorithmen über Tod und Leben, etwa beim autonomen Fahren. Im deutschen Bildungsbürgertum macht sich inzwischen eine digitale Hysterie breit. Computer und Handys würden die Kinder dumm und krank machen! Die Debatte um Künstliche Intelligenz ist so vollgestopft mit Klischees, Ängsten und Missverständnissen, dass sie sich immer mehr im Kreis dreht und zum „Future Bullshit“ geworden ist. KI ist ein Mythos, der sich von der Realität verselbständigt hat.
Zur Überprüfung der ChatGPT-Texte und Bücher wird es nicht mehr Tausende von Journalisten, Lektoren, Sachbearbeiter und Rechtsanwaltsgehilfen brauchen. Dafür werden andere, besser bezahlte Jobs entstehen: Datenprüfer und Urheberschützer, Ethikbeauftragte und Haftungsexperten. KI ist kein Jobkiller, sondern ein Jobshifter. Ihr Ziel ist die Verschiebung von unkreativen in kreativere, von routinierten in sozialere, von isolierten in kommunikativere Tätigkeiten. KI erzeugt Stress in der Gesellschaft, ist aber auch eine Befreiung von Möglichkeiten, die vorher unter Routinen verborgen waren. „Ab 2035 wird es keinen Job mehr geben, der nichts mit KI zu tun hat“, prognostiziert Bundesarbeitsminister Hubertus Heil. Zwei Drittel der Jobs in diesem Jahr sind heute noch unbekannt, prognostizierte das World Economic Forum bereits vor Jahren.
KI - ein Jobshifter, kein Jobkiller
KI wertet menschliche Tätigkeit auf und nicht ab. Krankenpfleger »pflegen« nicht einfach nur Kranke, sie stehen in Beziehung mit ihnen. Barkeeper schütteln nicht nur Cocktails, sie praktizieren Seelen-Kommunikation. Journalisten produzieren nicht Information, sie erzeugen humane Deutungen. Durch KI-Systeme kann Wissen gepoolt und dadurch Raum für menschliche Empathie geschaffen werden. KI verschiebt das Berufsspektrum in Richtung höherer Komplexität. Neue Tätigkeitsfelder und Jobs entstehen: Mediatoren und Moderatoren, Konnektoren und Kuratoren, Coaches und Gesundheits-Provider, Achtsamkeits-Agenten und Schönheits-Designer. Die Anzahl dieser Berufe wird die Anzahl der Tätigkeiten der alten Industriegesellschaft übersteigen und eine Freisetzung menschlicher Kreativität ermöglichen. Dafür wird es mehr und gleichzeitig eine andere Bildung und Weiterbildung brauchen.
Die neue Arbeitsgesellschaft erfordert den klugen KI-Einsatz
Die neue Arbeitsgesellschaft erfordert den klugen Einsatz von KI sowie ein gesundes menschliches Selbstbewusstsein. Über kurz oder lang wird es dazu führen, dass wir uns vom Joch industrieller Lohnarbeit mit ihren vielen funktionalen Zwängen emanzipieren können. In der neuen, digitalen Arbeitsgesellschaft geht es um sozial wirksame Berufe und nicht um „Bullshit-Jobs“ (David Graeber). Künstliche Intelligenz kann helfen, die kommende Arbeitsgesellschaft zu einer humanen zu transformieren. Es entstehen neue Machtverhältnisse und neue Konflikte. Aber auch neues Selbstbewusstsein und eine neue Selbstwirksamkeit.
Der US-Futurist Kevin Kelly behauptet in seinem neuen Buch „The Unevitable“, was uns immer von Computern und Maschinen unterscheiden wird, ist vor allem die Fähigkeit, gute Fragen zu stellen. Gute Fragen fordern gängige Antworten heraus, indem sie diese in Frage stellen. Eine gute Frage kann nicht vorausgesagt werden. Fragen, welche die Antwort bereits voraussetzen, sind nicht besonders klug: Wann wird KI die Menschheit beherrschen? Oder: Werden wirklich alle Jobs durch Roboter ersetzt? Bessere Fragen wären dagegen: Warum gibt es eigentlich immer mehr Jobs, obwohl ständig behauptet wird, der technische Fortschritt vernichte Arbeit? Wie können wir digitale Expertensysteme nutzen, um entspannter, klüger, bewusster und gesünder zu werden? Wie kann Künstliche Intelligenz dazu beitragen, unsere Städte und unsere Sozialsysteme zu verbessern? Und kann uns KI dabei helfen, die nächste globale Pandemie zu verhindern?
Verantwortung über KI tragen Menschen, nicht Maschinen
Wir Menschen werden lernen müssen, wo wir die Grenzen zur künstlichen Entmündigung ziehen und wo wir mehr Verantwortung für unser Tun übernehmen müssen. Die Verantwortung für die Folgen der Künstlichen Intelligenz tragen wir Menschen, nicht die Maschinen. Dafür braucht es kluge Regulierung und keine dummen Verbote. Berlin hat als erstes Bundesland Leitlinien zum Umgang mit KI an Schulen herausgegeben. Sie betonen die Chancen von ChatGPT beim Selbstlernen und bei der Überprüfung des eigenen Lernfortschritts, geben aber auch vor, dass ein von ChatGPT erzeugter Text, der als eigener ausgegeben wird, mit einem „Ungenügend“ zu bewerten ist.
Künstliche Intelligenz wird nur in demokratischen Systemen ihr volles Potenzial entfachen können. Ohne Meinungsfreiheit und Pluralismus kann auch KI nicht lernen. Zensursysteme sind KI-feindlich. Die Zukunft braucht beides: künstliche wie demokratische Intelligenz.